I GO SOLO

Im Herbst 2022 habe ich meine erste mehrtägige Solo-Wanderung in den österreichischen Alpen gemacht. Hatte ich Angst? Ja. War es das wert? JA!!!


Mühsam schäle ich mich aus dem Schlafsack, um den Reißverschluss des Zeltes zu öffnen. Es ist kalt und Frostkristalle glitzern im Licht der Stirnlampe auf meinen Wanderschuhen. Im ersten Moment empfängt mich Dunkelheit, aber am Horizont hinter den Berggipfeln ist er schon zu sehen und leuchtet verheißungsvoll: Der neue Morgen.


Warum Berge

Was ist es eigentlich, was wir in den Bergen suchen? Ist es die Natur, die Landschaft, die Aussicht?

Oder die Herausforderung? Ist es gar die Gefahr, der Nervenkitzel? Ist es die Einsamkeit,das letzte bisschen Wildnis, die Ruhe oder vielleicht etwas von allem? Miriam Mayer, eine junge Fotografin und Autorin vom Tegernsee, fragt sich das immer wieder auf ihrem „Weg nach oben“. Sie erzählt, was für sie der Sehnsuchtsort Alpen bedeutet und wie er ihre Persönlichkeit bildet und prägt.


Ob nachts um drei auf dem Weg zu einem einzigartigen Sonnenaufgang, auf einer kleinen Skitour in den Heimatbergen oder mitten im Gebirge auf einer Mehrtagestour. Manchmal stelle ich mir die Frage, was ich da eigentlich in den Bergen tue, weil die Erschöpfung mich an meiner Leidenschaft zweifeln lässt, manchmal aus Interesse an den Wanderern, die ich unterwegs treffe. Warum kehre ich immer wieder zu dieser zeitaufwendigen Passion zurück, die sowohl sehr schweißtreibend ist als auch ab und zu nicht ganz ungefährlich? Meine Cousine würde sagen, ich bin auf der Suche nach dem Zen. Und das trifft es vielleicht erstaunlich gut. Die Berge fordern mich stets heraus, im Hier und Jetzt zu sein. Gleichzeitig lassen sie mir die Freiheit, auch meinen Geist auf Wanderschaft zu senden. Sie sind eine Schule, die Lehren für Körper und Seele bereit hält, die Sinne schärft und Verstand voraussetzt. 


Aufbruch

Mit großem Respekt bin ich nach Österreich gefahren - alleine - zu meiner ersten Mehrtages-Solo-Wanderung in den Schladminger Tauern. Sieben Tage, ca. 90 km und 7000 Höhenmeter lagen vor mir auf einer Tour, die jeden Tag durch tiefe Bergkessel und über breite Gipfelkämme führt. Freunde haben mich gefragt, ob es Teil meiner Selbstfindung sei, ob ich denn keine Angst hätte und ob es nicht besser wäre, zu einem Zeitpunkt zu gehen, wenn jemand Zeit hätte, mich zu begleiten. Ich habe das Wort Selbstfindung nie besonders gemocht. Ich bin nicht auf der Suche nach mir selbst, ich bin ja schließlich schon da! Ich suche eher, wie so viele Menschen in meinem Alter, das richtige Leben für mich und die Antworten auf so viele Fragen, die sich immer wieder neu stellen. Aber weil mir nichts davon irgendjemand geben konnte, muss es wohl doch woanders herkommen. Aus dem sogenannten „Innen“? Also wohl doch Selbst-Findung. 


Ich bin eine Generalistin, das heißt ich kann mich für alles Mögliche begeistern. Abgesehen von der Fotografie hätte ich auch gerne Germanistik oder Umweltingenieurwesen studiert, eine Schreiner-Lehre gemacht oder mich zur Tier-Physiotherapeutin ausbilden lassen. Für mich gibt es nicht diese eine Sache und trotzdem finde ich mich selbst nicht selten auf der Suche danach wieder und beneide die Freunde, die direkt nach dem Abitur wissen, dass sie Ärztin oder Lehrer werden wollen. Aber die Fotografie verschafft mir Zugang zu so vielen Welten, wie es kaum ein anderer Beruf tut. Denn genauso gern, wie ich die Stimmung in den Bergen festhalte, schaue ich einem Chirurgen bei einer Wirbelsäulen-OP über die Schulter, charakterisiere ich einen Politiker, Sportler oder Künstler, feiere die Liebe auf einer Hochzeit oder führe den Betrachter meiner Bilder durch ein fremdes Land - jedenfalls fast. Vielleicht bin ich eine von denen, die immer auf der Suche sind. Aber wer immer sucht, der findet auch immer was. Die Schnittmenge sei dahingestellt, aber das Ergebnis nicht zu verkennen...

„Die Masse an Auswahl garantiert nicht das Finden.“

© Damaris Wieser 


Vom Finden

So bin ich mir also nicht ganz sicher, was ich in den Bergen suche, aber umso genauer weiß ich, was ich finde. Meine Augen, ebenfalls meist auf der Suche, konzentrieren sich nun auf den Weg, genau wie meine Füße. Ich spüre den schweren Rucksack, ich atme. Ich gebe mich einem Rhythmus hin, den mir der Wanderpfad vorgibt und den ich nur unterbreche, um mal tief Luft zu holen, oder um die Landschaft um mich herum zu bewundern. Ich finde meine Begeisterung. Sie überrascht mich schon am ersten Tag mit unerwarteter Stärke und einem Lächeln, das sich nicht unterdrücken lässt. Ich entdecke meine Liebe wieder für das hier. Ganz still war sie immer da und hat geschlafen, während ich mich mit meinem Alltag und meinen Mitmenschen beschäftigt habe und hin und im Stress auch mal die Orientierung verliere. Ob es die Höhenluft ist, die sie geweckt hat, der kalte Bergwind, der Geruch nach nassem Nadelwald und Zedernholz oder die herbstlich rot gefärbten Heidelbeerbüsche an den Hängen, weiß ich nicht. Aber jetzt ist sie da und sie macht mir bewusst, dass ich mich über so viel mehr definiere, als nur die Sorgen und Probleme, die sonst meine Gedanken im Griff haben. Bei jeder Pause genießen es meine Augen, die wilde Umgebung nach jedem kleinsten Detail abzutasten und ich kann sie kaum von den sich immer wandelnden Bildern aus aufwirbelnden Dunstwolken und Gipfelkämmen abwenden. 

Wo ich Einsamkeit erwartet habe, finde ich Frieden und sogar Erfüllung. Wie eine kleine Ameise stehe ich auf weiten Karstflächen, die sich in den Pfützen der vorigen Tage spiegeln. Im Windschatten der Gipfel blicke ich über die herbstlich gelben Wiesen an den steilen Berghängen und hin und wieder lassen die Wolken warme Sonnenstrahlen durch und ich schließe die Augen. Gipfelglück ist nicht nur ein Wort, sondern ein Seelenzustand. Ich bin viel allein und an manchen Tagen bin ich die Einzige, die eine Scharte überquert oder eine Tagesetappe bewandert. Ich hatte nicht damit gerechnet, aber ich vermisse keine Gesellschaft. Ich finde etwas sehr Kostbares: Selbstzufriedenheit. Ich bin nicht zu schnell oder zu langsam, nicht zu wenig fit, ich mache genau die richtige Anzahl an Pausen und wandere im genau richtigen Tempo. 




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Die Berge zwingen mich zu etwas, das ich sonst gern aufschiebe oder umgehe: Entscheidungen. In eine komplexe, schnelllebige Welt hinein geboren und mit unendlichen Möglichkeiten ausgestattet, stehe ich selbst im Alltag öfter mal etwas verloren „wie der Ochs vorm Berg“. Manchmal ist alles gar nicht so einfach. Was ist richtig oder falsch? Welchen Grundstein lege ich als nächstes für die Zukunft? In den Bergen stellen sich völlig andere, viel elementarere Fragen: Nehme ich den Gipfel mit oder lasse ich ihn aus? Habe ich genug Wasser dabei? Hält das Wetter? Schaffe ich meine Etappe? Niemand ist da, der mir die Wahl abnimmt. Die Frage, ob ich die Entscheidung rausschieben könnte, stellt sich aber an dieser Stelle gar nicht. Ich finde meine Abenteuerlust und meine Sehnsucht nach dem Neuen und Unbekannten, nach allem, was noch kommt. Ich sauge die kalte Bergluft ein und spüre das Leben.


Kontraste

Irgendwann hüllt der Nebel mich ein und kalter Regen jagt mich zur Hütte. Bei jedem Schritt läuft eine Welle durch meine Schuhe und ich frage mich, wann ich das letzte Mal so nass geworden bin. Ich trete ein und muss mich erst sammeln, die plötzliche Ansprache hatte ich irgendwie nicht bedacht und die ersten Gespräche in der Stube beginnen stockend. Aber während ich über meinen steirischen Kasnocken die anderen Gäste beobachte und mich aufwärme, finde ich noch etwas: meine Neugier. Die Bilder an den Holzwänden erzählen teils uralte Geschichten und ich stelle mir vor, vor vielen Jahrzehnten in den Bergen unterwegs gewesen zu sein. Wie anders war es damals wohl? Ich lausche den Unterhaltungen an den Nachbartischen und betrachte die Menschen. Wo kommen sie her, wo gehen sie hin? Ich halte mich immer für einen stillen Einsiedlerkrebs, aber in diesen abendlichen Runden finde ich meinen Platz und meine Stimme, denn auch ich habe bereits Geschichten zu erzählen und ich fühle mich wohl im Austausch mit anderen.


Wenn ich barfuß durch die inzwischen triefend nasse und eiskalte Wiese laufe, sind die Probleme aus dem wahren Leben so weit weg und unwirklich. Ich finde völlig unerwartete Erleichterung, Freiheit für den Geist und für die Seele. Das Hier und Jetzt pulsiert von den Füßen aus durch meinen ganzen Körper, während mein Blick gebannt auf das plötzlich erstrahlte Abendlicht auf der gegenüberliegenden Gipfelkette erstrahlt. Ein Regenbogen. 


So schwer die Suche nach den wesentlichen Dingen im „wahren Leben“ ist, so leicht ist das Finden hier unterwegs in den Bergen. Ich finde mein Durchhaltevermögen und am Ende mancher langen Etappe offengestanden auch meine Leidensfähigkeit. Ich finde an jedem Tag, an dem ich jemandem antworte „Ja, ich bin allein unterwegs.“ mein Selbstbewusstsein und ich finde auf jedem Kamm, am Grund jeden Bergsees und auf jedem Gipfel meinen Frieden. Wie im „Zen“ erlebe ich aktiv jeden Augenblick und kann so ganz allein in den Bergen den gesellschaftlichen Druck, materieller Werte, aber auch sozialem Status loslassen. Hier bin ich genug, keiner fragt mich, wo ich mich in 10 Jahren sehe und ob ich nicht langsam an Familiengründung denke. Ich schaffe es, mich auf den „Fluss“ des Erlebens einzulassen. Einfach mal machen, was sich gut anfühlt. „Der Weg ist das Ziel.“ 

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